SPIEGEL ONLINE: Herr Kerpen, wie produziert man einen Fleischtunnel

erpen: Das Ohrläppchen besteht nur aus Weichteilen: Haut, Bindegewebe, Fett. Das kann man dehnen, aber natürlich muss man das schrittweise tun. Man beginnt mit einem normalen Ohrloch und dehnt mit Dehnungsstäben aus Holz oder Titan pro Woche einen Millimeter oder etwas schneller. Das wiederholt man solange, bis ein Ring reinpasst und irgendwann vom Ohrläppchen nicht mehr viel übrig ist. Ich habe schon Fleischtunnel erlebt, durch die ich von hinten durchschauen konnte.

SPIEGEL ONLINE: Tut das Dehnen nicht weh?

Kerpen: Nein, wenn man das langsam macht, nicht.

SPIEGEL ONLINE: Bis zu sechs Zentimeter soll man erreichen können. Wo liegen die physiologischen Grenzen?

Kerpen: Das hängt davon ab, wie die Ohrläppchen beschaffen sind. Frauen haben normalerweise etwas dehnbareres Bindegewebe. Sechs Zentimeter sind auch das, was ich kenne. Aber von afrikanischen Völkern kennt man Fleischtunnel von zehn, 15 Zentimetern. Wenn man es übertreibt, wird die Haut zu dünn an den Außenstellen. Dann funktioniert auch die Durchblutung nicht mehr.

SPIEGEL ONLINE: Kann das Ohrläppchen nicht reißen?

Kerpen: Doch natürlich. Vor allem, wenn man das Loch nicht genau in der Mitte des Ohrläppchens setzt. Dann bekommt man keine maximale Ausdehnung. Frauen kennen das von normalen Ohrringen. Macht man das Loch zu tief, hängt sich das irgendwann raus und man hat ein Schlitzohr.

SPIEGEL ONLINE: Muss man zum Arzt, wenn es reißt?

Kerpen: Bei einem normalen Ohrloch ist das kein Problem, das heilt in zwei Wochen. Aber bei einem großen Loch von einem Fleischtunnel wird es komplizierter. Das Loch wird nicht von allein zuwachsen, da ist überall neu gebildetes Narbengewebe. Und weil die baumelnden Enden keinen Kontakt mehr haben, wachsen die auch nicht mehr von allein an der Wunde zusammen. Wenn Sie nichts unternehmen, bekommen Sie ein langes Schlitzohr. Wissen Sie eigentlich, woher der Begriff kommt?

SPIEGEL ONLINE: Nein.

Kerpen: Im Mittelalter riss man Dieben und Betrügern die Ohrringe einfach aus. Deren Ohrläppchen haben sich auch nicht mehr korrekt verbunden. Daran konnte man erkennen, ob jemand ein Schlitzohr war.

SPIEGEL ONLINE: Dann erleben wir bald also die Renaissance des Schlitzohrs?

Kerpen: Ja, vielleicht (lacht).

SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt doch Methoden, um den Fleischtunnel zu retten, oder?

Kerpen: Ja. Man kann das Ohrläppchen an dem Riss zusammennähen und warten, bis es ausheilt und der Ring wieder hinein kann, das dauert etwa ein halbes Jahr – Zeit, die der Patient mit einem riesigen Loch im Ohrläppchen herumlaufen muss, denn der Ring hält nicht mehr in dem kaputten Tunnel. Aber selbst danach bleibt eine Narbe und eine potenzielle Schwachstelle, die wieder reißen kann, wenn man den nächsten größeren Ring einsetzt.

SPIEGEL ONLINE: Und wie wird man den Fleischtunnel ohne OP wieder los?

Kerpen: Sie können das Loch verkleinern, indem Sie schrittweise kleinere Ringe benutzen. Aber das dauert lange, hat seine Grenzen und ist auch vom Alter abhängig. Ein Loch bleibt immer.

SPIEGEL ONLINE: Das heißt, ich komme gar nicht um eine Rekonstruktion des Ohrläppchens herum, wenn ich den Fleischtunnel wieder loswerden will?

Kerpen: Ja.

SPIEGEL ONLINE: Wie läuft der Eingriff ab?

Kerpen: Das hängt von den Wünschen des Patienten ab. Man kann das Loch verkleinern oder ganz wegmachen. Dann muss ich abwägen, wie viel Gewebe vorhanden ist, ich muss die äußerste Epithelschicht unter dem Ring wegnehmen, ein bis zwei Millimeter. Am unteren Pol des Ohrläppchens muss ich einen Keil machen und dann das gut durchblutete Gewebe umverteilen und mit ganz feinen äußeren und inneren Stichen und haardünnen resorbierbaren Fäden zusammennähen. Bis man eine ganz feine Naht hat und die entsprechende Form des Ohrläppchens wiederhergestellt ist.

SPIEGEL ONLINE: Also technisch ist das lösbar.

Kerpen: Ja, das geht eigentlich immer. Aber es ist eine richtige kleine OP. In der Regel mit örtlicher Betäubung, sofern der Patient nicht Vollnarkose wünscht.

SPIEGEL ONLINE: Wie lange brauchen Sie für ein Ohrläppchen?

Kerpen: Das hängt natürlich von der Größe des Lochs ab. Aber normalerweise so etwa 15 bis 30 Minuten.

SPIEGEL ONLINE: Die Kassen zahlen das wahrscheinlich nicht, oder?

Kerpen: Man kann einen Antrag stellen. Aber seit 2007 gibt es einen Paragraph, dass Versicherte, die sich einem unnötigen Risiko aussetzen, selbst für medizinische Folgeeingriffe haften. Und so ein Ohrloch beeinträchtigt einen ja nicht gesundheitlich.

SPIEGEL ONLINE: Wie viele Ohrlöcher haben Sie schon rekonstruiert?

Kerpen: Häufiger sind Schlitzohren oder ausgeleierte und vergrößerte Ohrlöcher nach falschem Piercing. Fleischtunnel sind noch ein frischer Trend, im Moment kommen noch wenige damit. Ich erwarte die Welle in zehn, 20 Jahren, wenn die Leute keine Lust mehr darauf haben und ihre alten Ohrläppchen wiederhaben wollen. Ich habe das Phänomen Fleischtunnel das erste Mal etwa vor sechs Jahren bewusst wahrgenommen. In Hamburg sieht man sie sehr häufig. Allerdings bin ich auch noch nicht so lange hier, solche Moden sind regional sehr verschieden.

SPIEGEL ONLINE: Wie gut arbeiten eigentlich Piercing-Studios, wenn die so etwas machen?

Kerpen: Früher passierten solche Sachen in irgendwelchen Hinterstuben nach einem Kneipengang. Das ist schon viel besser geworden. Piercer haben ihre Ausbildung, arbeiten in der Regel steril. Aber es sind keine Ärzte, das sollte man sich klar machen. Bei der Piercerei braucht man fundierte anatomische Kenntnisse. Gerade im Gesicht verlaufen viele Nerven und Blutgefäße, die man dabei verletzen kann. Und es können natürlich immer Infekte auftreten.

SPIEGEL ONLINE: Was kann noch schiefgehen beim Piercen?

Kerpen: Am häufigsten erlebe ich, dass die Leute das Loch nicht mittig stechen. Dann passieren die besagten Risse. Und am Ohr tritt auch häufiger überschießende Narbenbildungen auf, Keloide genannt. Das größte, was ich mal gesehen habe, war eine pflaumengroße Wucherung, die sich aus einem Piercing innerhalb von vier Jahren gebildet hatte.

Das Interview führte Jens Lubbadeh.